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Filip Markiewicz

Kurator*in(nen)
Bettina Heldenstein

Das Europa von heute ist eine Folge dessen, was vor rund fünfzig Jahren hier geschehen ist."

In allen filmischen Arbeiten von Filip Markiewicz betrachten wir die Welt mit seinen Augen und seinen Gedanken. Der Künstler verwendet eine auf Augenhöhe geführte Handkamera, mit der er die jeweiligen Situationen mit gekonntem, klarem Blick erfasst, um die Bilder elegant zu komponieren. Dabei kontrolliert er unseren Blickwinkel, egal, ob es sich um eine reale Szene handelt, wie bei dem Straßenmusiker in dem Film Apotheke am Hermannplatz (2010), oder um eine Inszenierung mit Darstellern und ausgefeilter Requisite wie in Voyage au bout d'une identité (2015).„Zeichnen ist gefährlich ... eine Massenvernichtungswaffe."

In Empire of Dirt (2007) nehmen wir an einer Punkparty in einem White Cube einer Galerie teil. Graffiti, Gitarren und junge Menschen erfüllen den begrenzten Raum mit Energie und Aggression. Der vom Virginia-Tech-Massaker inspirierte Film zeigt mit einem besänftigenden Klavierstück von Arvo Pärt unterlegte Rebellion. Musik spielt in den Filmen des Künstlers eine wichtige Rolle. An der Ecke der Apotheke am Hermannplatz wiederum starren wir als distanzierte Beobachter auf die stille andere Straßenseite. Auf dem Schild des Straßenmusikers lesen wir still den Spruch „Das Leben ist wie ein Rad" und seinen Wunsch, sein Saxofon zu verkaufen, um zu seiner Familie zurückkehren zu können. Eine düstere Melodie erklingt, als wir uns dem Musiker zuwenden. Straßenlärm, ein hupendes Auto, eine heftige Auseinandersetzung dienen als Kontrapunkt zu der Melodie, bis abrupt verstörende Stille einsetzt.„Das Paradies kommt der Hölle manchmal sehr nahe."

In Low Cost Symphony (2010) findet sich eine subtile Umsetzung musikalischer Form. Eine Gruppe Allegro-Straßenmusiker, die in einer U-Bahn-Station spielen; eine ungezwungene Adagio-Unterhaltung im Café; eine Scherzo-Rockgitarre und schließlich das Presto-Finale der Trommeln und Gesänge einer Demonstration. Die politische Diskussion der beiden Protagonisten in Voyage au bout d'une identité dreht sich um Popikonen von Bonnie Tyler bis Conchita Wurst und fasst, wie es heißt, „eine ganze europäische Ära in drei Minuten zusammen". Kitsch und Pomp werden durch den Schnitt, die polemischen Statements des Künstlers und auch die Schauplätze ironisch gegenübergestellt und gesampelt. Von den großen Sälen des Europäischen Parlaments bis zu märchenhaften Prachtbrücken, vom „Geschenk Stalins" (dem Kulturpalast) in Warschau bis zu gewöhnlichen Straßencafés und anderen Orten wird allen Schauplätzen als Readymade-Filmset das gleiche Gewicht gegeben.

„Das wahre Leben ist ein Film."Voyage au bout d'une identité ist die bisher ambitionierteste filmische Arbeit des Künstlers. Der Film bildete das Herzstück des vom Künstler gestalteten Luxemburger Pavillons auf der Biennale von Venedig 2015 und besteht hier aus einer Einkanalprojektion statt des ursprünglichen immersiven Environments aus mehreren Bildschirmen. Durch diese Konzentration entsteht Bewegung, ständige Szenenwechsel verstärken während des gesamten Films das Gefühl, Teil eines größeren Environments zu sein. In einigen Momenten hält der Film inne und folgt einer Szene, auch hier unter Einsatz von Kontrast und Stille, bis wir uns nach der Atempause wieder auf diese dichte, vielschichtige Arbeit einlassen.„Für viele Menschen nur ein Tropfen Wasser, aber bei einem Tropfen kann es sich auch um eine Träne handeln, und Tränen sind Geschichte."

Das Werk von Filip Markiewicz ist voller Geschichte. Ich sehe Erinnerungen, Konsequenzen, Leidenschaft und Zorn in jeder Szene - aber ich bin mir bewusst, dass meine Augen gerade ganz erfüllt sind. Ich schreibe dies am 17. Juni 2016 in London. Gestern wurde im Vorfeld eines Referendums zum Verbleib Großbritanniens in der EU eine junge Parlamentsabgeordnete von einem Britain-First-Anhänger erschossen. Großbritanniens Stellung als führende diplomatische Macht ist gefährdet. In ganz Europa erlebt die Angst und Hass schürende extreme Rechte einen steten Aufschwung. In Voyage au bout d'une identité werden Auszüge aus dem Manifest für eine Technologie der Entpolitisierung des Körpers,  proklamiert, ein Manifest, das durch den ermordeten John Lennon inspiriert wurde: „Stell dir vor, dass jeder menschliche Körper das Recht auf ein würdevolles Leben in dem Land seiner Wahl hat." Ein Satz, den zu lesen in diesem Moment schwer fällt.„Es macht mir Angst, aber ich schaue es mir gern an."Voyage au bout d'une identité wechselt zwischen Polen und Luxemburg und bedient sich der architektonischen Vermächtnisse der unterschiedlichen Ideologien in Europa gestern und heute. In den inszenierten Konversationen zwischen den beiden Protagonisten, die sich nahtlos durch verschiedene Orte, Sprachen, Soundtracks und Genres bewegen, offenbaren sich die Vieldeutigkeit und Fragilität von Europa, Luxemburg und unserer Erinnerung.Voyage au bout d'une identité, trailer: https://vimeo.com/146519392„Unsere Erinnerung beruht auf Google."

Ein Requisit aus dem Polonia Palace Hotel will mir nicht aus dem Sinn gehen: ein 100-Dollar-Schein, verziert mit dem Schriftzug SORRY. Die Dollarnote bildet einen prägnanten Kommentar zur Rolle Luxemburgs als stolze Steueroase (was auch immer dies für seine Nachbarn bedeutet), hat aber zugleich auch eine geografie- und geschichtsübergreifende Aussage, wie es häufig im Werk des Künstlers der Fall ist.„Zu tanzen heißt zu fallen, und zu fallen bedeutet in erster Linie wiederaufzustehen."

Catherine Hemelryk

Künstlerische Direktorin, NN Contemporary Art Northampton, Großbritannien.Geschrieben in der Europäischen Union. 17. Juni 2016.

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ChannelBox Preview Week-end (1.7. - 4.7.2016)

Die Filme von Filip Markiewicz werden am 10. Jubiläumswochenende des Mudam von Freitag, 1. Juli, bis Montag, 4. Juli, als Vorpremiere in der ChannelBox des Casino Luxembourg gezeigt.

BlackThursday, 7.7.2016, 19.00 Uhr.

Raftside LeaksKonferenz/Performance

mit Filip MarkiewiczTom Bauler, Professor für Wirtschaft, Université Libre de BruxellesLuc Schiltz, Schauspieler.

Abendessen nach dem Konzert/Performance im ca(fé)sino möglich. Anmeldung erwünscht: T (+352) 26 27 02 79 oder cafesino@casino-luxembourg.lu

Ausstellungen
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